Was heißt eigentlich „Fairness“?

Unse­re aktu­el­le Aus­ga­be – Heft 4 / 2016 – ist in Druck und wird hof­fent­lich vor Jah­res­en­de ver­teilt sein. Themen-Schwerpunkt ist unse­re Kam­pa­gne „Fair bis aufs Meer“ und an der ori­en­tiert sich auch das „Edi­to­ri­al“ des Hef­tes: „Es geht nicht um eine ‚Fair­ness‘, die herr­schen­de Ver­hält­nis­se für Men­schen erträglich(er) macht. Strei­ten wir lie­ber für eine Fair­ness, die Ver­hält­nis­se mensch­lich umkrem­peln hilft.“ 

Lie­be Lese­rin­nen, lie­be Leser!

Einer der häu­figs­ten Begrif­fe die­ser Aus­ga­be ist das Wort „fair“. Das hat zu tun mit dem Schwer­punkt die­ses Hef­tes, mit unse­rer Kam­pa­gne „Fair bis aufs Meer“ – wer sich dar­über infor­mie­ren, bes­ser noch: dar­an betei­li­gen möch­te, lese bit­te die Sei­ten 7-22. Die­ses Edi­to­ri­al ist aber nicht der Ort, um wei­te­re Details zu die­sem The­ma zu erör­tern. Gewiss gäbe es dazu noch viel zu sagen – aber das packen wir dann in den nächs­ten Aus­ga­ben in 2017 an…

Hier und jetzt soll uns eine ande­re Fra­ge beschäf­ti­gen: Was bedeu­tet uns – und Euch – eigent­lich das Wort „fair“ im nor­ma­len Sprach­ge­brauch? Die Tat­sa­che, dass es der genann­ten Kam­pa­gne über­haupt bedarf, grün­det sich doch letzt­lich auf der schil­lern­den und wider­sprüch­li­chen, teil­wei­se auch ver­lo­ge­nen Ver­wen­dung die­ses Begriffs im gesell­schaft­li­chen All­tag, oder? Wie­so muss „Fair­ness“ hier über­haupt the­ma­ti­siert wer­den, wie­so ist es alles ande­re als selbst­ver­ständ­lich, in der Schiff­fahrt „Fair­ness“ wal­ten zu las­sen? Wie­so trägt der Begriff in sich von vorn­her­ein zwei unglei­che, ein­an­der wider­spre­chen­de Sei­ten: Die eine, die han­delt und zufügt, die ande­re, die erfährt, erdul­det, erleidet?

In den jüngs­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen bei­spiels­wei­se um Han­dels­ab­kom­men wie CETA oder TTIP ist immer wie­der von Fair­ness die Rede, zumin­dest von­sei­ten derer, die die­se Ver­trä­ge bra­chi­al und unter Aus­he­be­lung demo­kra­ti­scher Struk­tu­ren durch­zu­pau­ken ver­su­chen. Ohne hier und jetzt in die­se Aus­ein­an­der­set­zung tie­fer ein­stei­gen zu wol­len: Die „Fair­ness“, die in die­ser Pro­pa­gan­da immer wie­der für „den Welt­han­del “ ein­ge­for­dert wird, meint letzt­lich nur das ver­brief­te Recht auf Macht und Pro­fit ohne Wider­stand. Und es ist bezeich­nend, dass die­je­ni­gen, die gegen die­se Abkom­men mobi­li­sie­ren, nicht von „fai­ren“, son­dern von „gerech­ten“ Welt­han­dels­be­din­gun­gen und von Soli­da­ri­tät reden.

Im Juli kom­men­den Jah­res soll in Ham­burg das jähr­li­che Gip­fel­tref­fen der „G 20“ statt­fin­den, die über sich selbst ein­räumt, „kei­ne inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on, son­dern ein so genann­tes infor­mel­les Gre­mi­um“ zu sein (www.g20.org). Man sei „ein Kind der Finanz­kri­se 2008“, heißt es da – ganz so, als ob die­se Kri­se vom Him­mel gefal­len und nicht etwa ein Ergeb­nis von Feh­lern eben jener sei, die sich da treffen.

Die G 20 fasst kei­ne Beschlüs­se, die eine direk­te recht­li­che Wir­kung haben“, ist wei­ter zu lesen – das pro­vo­ziert Sar­kas­mus: Es wär‘ ja auch noch schö­ner, wenn gel­ten­de Rechts­sys­te­me (die via CETA oder TTIP gera­de aus­ge­he­belt wer­den sol­len) hier zum Zuge kämen! Nicht zu ver­ges­sen: „Die G 20 setzt … regel­mä­ßig deut­li­che Zei­chen gegen Pro­tek­tio­nis­mus und für fai­re Wett­be­werbs­be­din­gun­gen.“ Da ist er wie­der, die­ser Begriff „fair“ – min­des­tens so häu­fig ver­hunzt und miss­braucht wie die heut­zu­ta­ge all­ge­gen­wär­ti­ge „Nach­hal­tig­keit“.

Wer­fen wir einen Blick auf die Lis­te derer, die zur erlauch­ten G-20-Runde zäh­len: Wie „fair“ sind denn die Ver­hält­nis­se etwa in Argen­ti­ni­en oder Bra­si­li­en, deren rechts­las­ti­ge Staats­chefs alle sozia­len Schran­ken im Inne­ren ein­zu­rei­ßen ver­su­chen und nach außen Vene­zue­la dis­zi­pli­nie­ren wegen des­sen Wider­stands gegen das unfai­re Dik­tat des Mercosur-Vertrages? Wie „fair“ sind die Ver­hält­nis­se in Süd­ko­rea oder, hoch­ak­tu­ell, der Tür­kei, in Saudi-Arabien oder Indo­ne­si­en? Wohl­ge­merkt: Die Auf­zäh­lung ist unvoll­stän­dig und den Blick auf die G 20 prä­gen­den und beherr­schen­den Groß­mäch­te des glo­ba­len Nor­dens haben wir hier ohne­hin ausgespart…

Denn auch im All­tag hier­zu­lan­de stol­pert man nahe­zu täg­lich über irgend­ei­ne miss­bräuch­li­che Ver­wen­dung des „Fairness“-Begriffs. Abseits etwa von Wirt­schafts­fra­gen mit „fai­rem“ Kapi­tal­ver­kehr genügt ein Blick in Tages­pres­se oder Fern­se­hen: Wie „fair“ ist es, mit mar­gi­na­len Min­dest­löh­nen wuchern­de pre­kä­re Beschäf­ti­gung „bekämp­fen“ zu wol­len? Wie „fair“ kön­nen Sank­tio­nen sein, die staat­li­che Insti­tu­tio­nen etwa gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen ver­hän­gen, solan­ge staat­li­che Ban­ken drei­stel­li­ge Mil­lio­nen­be­trä­ge an zocken­de Indi­vi­du­en ver­schen­ken (sie­he Sei­te 6)?

Als sich jüngst das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt mit den Regress­for­de­run­gen der Atom­kon­zer­ne zu befas­sen hat­te, war in etli­chen Kom­men­ta­ren von einem „fai­ren“ Urteil die Rede. Ohne hier die Debat­te um den Atom­aus­stieg und sei­ne Abwick­lung aus­brei­ten zu wol­len: Man mag den Karls­ru­her Spruch als „rech­tens“ bezeich­nen – aber darf man eine Ent­schei­dung „fair“ nen­nen, die einer Bran­che Eigen­tums­rech­te zuer­kennt an Anla­gen, die wesent­lich von Steu­er­zah­lern finan­ziert wur­den? Ste­cken nicht Mil­li­ar­den öffent­li­cher Gel­der in die­ser Tech­no­lo­gie? Wäre es da nicht „fair“ gewe­sen, den Pro­fi­teu­ren die­ser hoch­sub­ven­tio­nier­ten Anla­gen wenigs­tens jetzt Regress zu ver­wei­gern, wenn man sie schon nicht durch­grei­fend für Abbau und Ent­sor­gung haf­ten lässt?

Wer Wor­te wie „fair“ oder „Fair­ness“ ver­wen­det, muss sorg­fäl­tig prü­fen, wie das jeweils geschieht; die Begrif­fe tra­gen in sich eine – nein: die Wider­sprüch­lich­keit, die unser aller All­tag prägt. Es kann und darf nicht dar­um gehen, Ver­hält­nis­se „fair“ zu nen­nen, nur weil sie trotz des sys­te­mi­schen Ziels „Einer gewinnt!“ den Ande­ren am Leben las­sen. Wenn wir „Fair­ness“ sagen – oder for­dern, wie in der in die­ser Aus­ga­be the­ma­ti­sier­ten Kam­pa­gne –, dann haben wir die­se Wider­sprüch­lich­keit unbe­dingt zu berück­sich­ti­gen. „Hart, aber fair“ ist per­vers – es geht nicht um eine „Fair­ness“, die herr­schen­de Ver­hält­nis­se für Men­schen erträglich(er) macht. Strei­ten wir lie­ber für eine Fair­ness, die Ver­hält­nis­se mensch­lich umkrem­peln hilft.

In die­sem Sin­ne: Soli­da­ri­sche Grü­ße und bes­te Wün­sche für ein gerech­te­res 2017.

Peter Ull­rich und Burk­hard Ilschner

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WATERKANT-Redaktion