Von „Heulbojen“ und anderen Abzockern
Von Burkhard Ilschner*
TTIP, Lateinamerika, Südafrika, Bangladesch, Euro-Krise, FIFA, Ukraine, Waffenhandel, Drogengeschäfte, Sozialabbau, Überwachungsstaat, Giftgas oder Organhandel – nahezu jedes Thema dieser Zeitschrift ist irgendwie verknüpft mit oder abhängig von dem so genannten maritimen Sektor. BIG stellt diese ebenso vielfältige wie subventionshungrige Branche in einer losen Artikel-Serie vor (1). In dieser Folge geht es um die Schifffahrt als solche – um Reeder (2) und um Seeleute. – [Vorspann aus der Zeitschrift BIG Business Crime, ISSN 1861-6526, 4/2015, S. 21]
Deutschland ist einer der erfolgreichsten Schifffahrtsstandorte weltweit, eine „Seefahrernation“. Aber wo sind deren Kapitäne, Steuerleute, Matrosen und Maschinisten? Rühmen sich nicht die Hansestädte anlässlich von „Sail“-Paraden oder „Hafengeburtstagen“ ihres maritimen Charmes? Haben nicht Seemanns-Motive jüngst wieder die Erfolgsleiter der Schlagerkultur erklommen? Seefahrt war und ist ein knallhartes Geschäft für die einen und ein Knochenjob für die anderen – jede Romantik, wie sie besungen oder theatralisch bespielt wird, fehlt ihr bei realistischer Betrachtung ebenso wie jede Exotik.
Zu jedem knallharten Geschäft gehört Geld – das die einen im Überfluss haben und von dem die anderen zu wenig bekommen. Es geht um Geld, das abgegriffen wird durch Steuertricks, aus staatlichen Subventionen oder Förderprogrammen (3). Und es geht um Geld, das so oder so ähnlich denen vorenthalten wird, die es erarbeiten. Es geht hier und jetzt einerseits um diejenigen, denen Handelsschiffe gehören oder die sie betreiben, um damit (viel) Geld zu verdienen. Und es geht andererseits um diejenigen, die an Bord dieser Schiffe leben und malochen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu sichern.
Deutschlands maritime Wirtschaft ist im internationalen Vergleich stark aufgestellt“, hieß es pauschal im ersten Teil dieser Artikelserie. Dazu etwas genauer: Grundsätzlich zählt die Handelsflotte (4) deutscher Reeder seit vielen Jahren zur Spitzengruppe der Weltrangliste. Und auch im führenden Segment der Containerschifffahrt liegen deutsche Eigentümer seit langem an der Spitze. Diese Aussagen beziehen sich aber auf die Schiffe, die deutschen Reedereien gehören oder von ihnen „bereedert“ werden. Denn diese Unternehmen lassen nur einen Bruchteil ihrer Flotte auch unter deutscher Flagge fahren: Gerd Bedszent hat hier im Frühjahr kurz die Historie der so genannten „Ausflaggung“ angerissen (5), es wird auf diesen unschönen „Brauch“ noch einzugehen sein. Sicher ist aber: Keine Bundesregierung hat je die Abhängigkeit der Exportnation BRD von der Seeschifffahrt verkannt, alle waren immer bereit, die Eigentümer und Reedereien dafür zu hofieren – und zu schmieren.
Zunächst einige Bestandszahlen: Im Jahre 1970 zählte die deutsche Handelsflotte 2578 Schiffe – und davon fuhren 2578 unter deutscher Flagge (6). Bis Mitte der 1990er Jahre ging der Bestand mehr oder weniger kontinuierlich zurück, allerdings nahm das Transportvolumen im Zuge der Schiffsgrößenentwicklung ebenso stetig zu: 1970 hatte die Flotte 7,5 Millionen BRZ (7), im Jahre 1995 bei nur noch 1542 Schiffen aber 10,8 Millionen. Zugleich hatte der Ausflaggungstrend schon früh in den 1970ern begonnen: 1980 etwa fuhren von 1900 Schiffen (11,8 Millionen BRZ) nur noch 1540 unter deutscher Flagge; 1990 waren es mit 922 nur knapp zwei Drittel des weiter geschrumpften Bestandes von 1410 Schiffen mit 7,5 Millionen BRZ.
Dieser Rückgang war übrigens keine deutsche Erscheinung: 1980 hatte die Welthandelsflotte eine Kapazität von 683 Millionen BRZ, 1990 nur noch 659 Millionen. Erst ab Mitte der 1990er ging es rasant aufwärts – eine Folge sowohl der Globalisierung als auch der immer druckvoller betriebenen Containerisierung: Im Jahre 2000 wurden bereits 800 Millionen BRZ erreicht, 2009 waren es schon 1,2 Milliarden (8).
Zurück zur deutschen Handelsflotte: Auch die hat ab Mitte der 1990er Jahre kräftig zugelegt, unter anderem dank kreativer Steuerabschreibungsmodelle wie etwa der Fonds-Finanzierungen (später mehr dazu). 1995 fuhren mit 825 Schiffen nur wenig mehr als die Hälfte des Gesamtbestandes (siehe oben) unter deutscher Flagge. Während aber die Zahl der Schiffe deutscher Eigentümer kontinuierlich zunahm auf deren Weg zur Weltspitze, nahm das Führen der deutschen Flagge ebenso drastisch ab: Für das Jahr 2000 weist die Statistik 1850 Schiffe (19,9 Millionen BRZ) aus, davon 717 mit 6,5 Millionen BRZ unter eigener Flagge. Dem Flotten-Spitzenwert von 3784 Schiffen (88,7 Millionen BRZ) des Jahres 2012 standen nur noch 530 Schiffe mit Schwarzrotgold am Heck gegenüber (6). Die aktuellsten Werte stammen vom 31. August 2015, zu diesem Stichdatum bezifferte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg die deutsche Handelsflotte auf 2939 Schiffe mit 75,1 Millionen BRZ – und nur 354 davon führen auch die eigene Flagge (9).
Abgesehen von Begriffen wie „Globalisierung“ und „Containerisierung“ sind für das Verständnis solcher Zahlenbeispiele mehrere Aspekte von Bedeutung. In der ersten Folge dieser Serie war die Rede von der fehlenden Bescheidenheit der maritimen Akteure. Das gilt nicht zuletzt auch für die Reedereien, über die schon 1961 – zehn Jahre nach Gründung der deutschen Nachkriegshandelsflotte – der SPIEGEL schrieb: „Die Reeder verlangen von Bonn … Staatszuschüsse und zinsbillige Kredite. Sie wollen … als subventionsreife Stiefkinder der freien Marktwirtschaft anerkannt werden und betätigten sich in Bonn als Heulbojen, die immer wieder dasselbe Leidmotiv ertönen ließen: ‚Schifffahrt in Not. Rettet uns vor dem Ruin.‘“ (10).
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jede konstante Entwicklung ebenso wie jede Veränderung ökonomischer oder politischer Parameter bietet Anlass für Begehrlichkeiten und Forderungen. Dieses ständige Gezerre um Vergünstigungen und Zuschüsse ist aufs Engste verflochten mit dem Bestreben, die errungene Position an der Weltmarktspitze möglichst noch auszubauen – und das geht im herrschenden Wirtschaftssystem bekanntlich am besten mit gnadenloser Konkurrenz etwa durch Aufbau von Überkapazitäten, durch Dumping bei den Frachtraten sowie durch rücksichtslose Kostensenkung, zumal wenn diese nicht nur auf dem Rücken der eigenen Beschäftigten erfolgt, sondern vom Steuerzahler komfortabel abgesichert wird.
Um nicht missverstanden zu werden: Alles, was hier über deutsche Reedereien und die deutsche Handelsflotte geschrieben steht, ist nicht isoliert zu betrachten. Einerseits steht die hiesige Handelsschifffahrt nicht nur in Konkurrenz zu Reedereien anderer Nationen, sondern ist zugleich vielfach mit diesen verflochten, sowohl über einzelne Firmenkonstrukte als auch – und vor allem – über die so genannten Linienallianzen: Kartellähnlich befahren mehrere Reedereien gemeinsam und planmäßig eine bestimmte Verbindung (Beispiel: Fernost-Nordwesteuropa) und stimmen dabei nicht nur eingesetzte Schiffe, sondern auch deren Routen, Termine und Tarife untereinander ab. Andererseits muss jedes neue „Heulbojen“-Signal immer auch relativ gesehen werden: Es ist unstrittig, dass andere Nationen – und bei weitem nicht nur Billigflaggen-Staaten! – ihre Reedereien und ihre Flotten auf mindestens ebenso vielfältige Weise begünstigen und subventionieren wie es hierzulande seit den 1960ern üblich ist. Das verzerrt zweifellos die (siehe oben: verflochtene) Wettbewerbssituation, fördert aber im selben Maße das Verhalten der Branche, sich ständig als notleidend auszugeben. Und das oft so krass, dass manch einer sich fragt, warum es überhaupt noch Reeder gibt – denn von wohltätigen Zielen war nie die Rede, irgendwie scheint sich das knallharte Geschäft ja doch auszuzahlen.
Und das seit fast 65 Jahren: Als 1951 die Alliierten Hochkommissare der BRD wieder Schiffbau gestatteten, kam das seit Kriegsende nur träge dümpelnde Geschäft deutscher Reeder wieder in Fahrt (11). Schifffahrtshilfen im heutigen Sinne gab es damals so gut wie keine, dafür wurden die Reedereien massiv subventioniert beim dringend notwendigen Flottenneubau: Als Einstieg gab es per (einstimmigem!) Bundestagsbeschluss schon mal 100 Millionen D Mark als Kredite, die erst in 16 Jahren abzulösen waren, dazu steuerbegünstigte Bankenmittel sowie die organisierte Option abschreibungsbevorzugter privater Anlagen, für die in Schifffahrtszeitungen und Börsenblättern massiv geworben wurde. Allerdings hatten diese Begünstigungen auch ihren Preis – offenbar besaß in jener Zeit die Politik noch Rückgrat genug, Bedingungen an gewährte Hilfen zu knüpfen: Als 1956 die „International Chamber of Shipping“ wegen der massiv beginnenden Tendenz zur Ausflaggung harsche Kritik an den „Großverdienern der internationalen Schifffahrt“ übte, schrieb der SPIEGEL in seinem Bericht über das Donnerwetter und die teilweise wütenden Reaktionen der kritisierten Reeder: „Die westdeutschen Konferenzteilnehmer … mussten sich derartiger Androhungen enthalten. Das Bundesverkehrsministerium hat den Besitzern der mit staatlicher Hilfe finanzierten westdeutschen Nachkriegshandelsschiffe den Flaggenwechsel ausdrücklich untersagt“ (12). – So einfach war das damals!
Während aber die einen Großverdiener ihre Profite per Run in die Billigflaggen sicherten oder steigerten, konnten sich andere auf ihre Regierungen verlassen, die ihnen jedwede finanzielle Unbill mit Steuermitteln vom Halse hielt. Schon Anfang der 1960er bejammerten die deutschen Reedereien anlässlich ihrer oben erwähnten „Heulbojen“-Kampagne (10) vor allem die massiven Subventionen, die Branchenkollegen befreundeter Nachbarstaaten zu beträchtlichen Vorteilen verhalfen: „Dabei taten sich besonders Westdeutschlands EWG-Partner Italien und Frankreich hervor. Italien gewährt seinen Reedern mit bundesdeutscher Zustimmung Darlehen, Zinszuschüsse und Steuerrückvergütungen, wenn damit neue Schiffe finanziert werden. (…) Frankreich stützt nicht nur den Schiffbau, der Staat beteiligt sich auch an Großreedereien und gleicht Verluste mit Steuermitteln aus. In den meisten anderen Ländern wie Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Holland wird die Schifffahrt zumindest durch Steuervergünstigungen gefördert“ (10).
Zwar fasste der SPIEGEL die deutsche Situation in dem markanten Satz: „Die meisten Schiffseigner sind hoch verschuldet“ zusammen. Das Magazin wusste aber als „Beweis ihrer Existenznot“ nur auf ein von der Branche selbst vorgelegtes Gutachten zu verweisen, wonach „80 bis 90 Prozent aller Reeder während der letzten Jahre buchmäßig mit Verlust fuhren, das heißt, ihre Einnahmen deckten höchstens die Betriebsausgaben wie Heuer, Treibstoff, Schiffsversicherung und den Unternehmerlohn, den sich die Reeder selbst bewilligen“ (10). Insbesondere der letzte Teil dieses Zitats aus dem Jahre 1961 ist symptomatisch und verdient Beachtung bis in heutige Tage: Wann immer öffentliche Gelder in privatwirtschaftliche Kanäle gepumpt werden, fehlt es an überprüfbarer öffentlicher Kontrolle über die wahre Finanzlage des so subventionierten Unternehmens und seiner (in der Regel legalen) Tricks, Profite buchhalterisch zu verschleiern. Letztlich waren damals die „Heulbojen“ ziemlich erfolgreich und durften sich über dreistellige Millionensubventionen freuen – unter anderem als Ausgleich für Verluste durch Währungsschwankungen, vor allem durch D-Mark-Aufwertung in einer überwiegend nach US-Dollar abrechnenden Branche.
Ungeachtet aller (siehe oben) Verflechtungen und Wettbewerbs-Probleme muss eines klargestellt werden: Die Phantasie der Reeder im Erfinden von Ausreden und Bedenken ist beachtlich. Vieles davon mag auch zu einer eventuell angespannten Lage beitragen – aber wenn in Phasen engagierten Subventionspokers einzelne Unternehmen Jahresabschlüsse vorlegen mit überdurchschnittlichen Dividenden, dann ist das mindestens so unverfroren wie das Verschweigen selbstverschuldeter Ursachen für Ertragsschwächen: Der damals wie heute beharrliche Neubau von immer weiteren Schiffen trägt (zumal „andere“ es gleichtun) zu massiven Überkapazitäten bei, die ihrerseits die Frachtraten in den Keller treiben. Und es ist skandalös: Denn diese Neubau-Orgien wurden und werden nicht nur vielfältig vom Staat subventioniert – vielmehr sind es staatliche Banken, die den Reedern Fonds- und andere Finanzierungen als Abschreibemodelle, ergo als Steuerschlupflöcher, geradezu andienen. Und wenn – wie im Falle etwa der HSH Nordbank – ein solches Institut in Schieflage gerät, wird mit weiterem Steuergeld und politischen Tricks die „Abwanderung des für die maritime Wirtschaft wichtigen“ Schiffsfinanzierungsgeschäfts abgewendet (13).
Selbstverständlich liegt die Schuld für Krisen und Brüche immer bei anderen. In den 1960er Jahren fuhren westdeutsche Schiffseigner zwar ständig steigende Gewinne ein, 1969 etwa galt als Rekordjahr der Nachkriegszeit. Trotzdem jammerte der Verband Deutscher Reeder (VDR) Anfang der 1970er über gestiegene Treibstoff-, Personal-, Reparatur- sowie Lade- und Lösch-Kosten; und addierte dies in Verbindung mit besagten Ratentiefs und Überkapazitäten zu einem Untergangsgeschrei, als dessen Ergebnis eine massive Ausflaggungs-Welle begonnen wurde. Einige real selbst verschuldete Faktoren allerdings waren in all dem Wehgeschrei nicht zu hören:
- Die rasch zunehmende Containerisierung erzeugte Druck auf dem Neubaumarkt, denn geeignete Schiffe mussten her. Aber die dadurch überzählig werdenden alten Mehrzweckfrachter wurden nicht verschrottet: Stattdessen verhökerten die Reedereien ihre Alttonnage profitabel an Drittweltländer, die nun ihrerseits auf Ladungs-„Jagd“ gingen und dabei mit Dumpingraten auf jenes Branchen-Establishment „schossen“, das ihnen gerade die Schiffe angedient hatte.
- Und: Es gab Mitte der 1970er heftige Zerwürfnisse zwischen dem VDR und der Schiffbauindustrie, weil deutsche Unternehmen ihre Neubauten immer häufiger in Fernost bestellten, trotzdem aber Bundeshilfen dafür in Anspruch nahmen. Allein im ersten Halbjahr 1975 beispielsweise seien 46 Einheiten im Wert von mehr als einer Milliarde D-Mark im Ausland geordert worden, kritisierte laut SPIEGEL der Verband der Deutschen Schiffbauindustrie; weil aber der Bund damals jede Neubestellung mit 7,5 Prozent der Auftragssumme prämiierte, seien „durch das Fremdgehen der Reeder … gut 80 Millionen Mark Steuergeld … an die falsche Adresse überwiesen“ worden (14). Als teure Skurrilität jener Zeit darf übrigens auch gesehen werden, dass etwa Tanker, die mit deutschen Subventionen im Ausland gebaut wurden, anschließend zusätzlich vom „Tankersonderprogramm“ des Bundes profitierten, sofern sie unter deutscher Flagge geführt wurden: Vor allem die Deutsche ESSO soll da recht kreativ gewesen sein.
Die 1970er und auch 1980er Jahre waren mit dem Beginn einer globalen Logistikentwicklung geprägt von radikalen Brüchen in der Schiffbaubranche. Nach Fernost „exportiertes“ westeuropäisches Knowhow (1) addierte sich mit lokalen Niedriglohn- und Arbeitsbedingungen zu einem Werftenboom am Westpazifik, dem hiesige Schiffbauer nicht standhalten konnten; dem massiven Verfall etwa im Großtankerbedarf stand die wachsende Nachfrage nach immer größeren Containerschiffen gegenüber. Ab der zweiten Hälfte der 1970er führte dies in Verbindung mit der unkontrollierten Subventionierung zu einer Welle von Pleiten vorwiegend kleiner und mittlerer Werften. „Nur die fünf Großen der Branche – Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW), AG „Weser“, Blohm + Voss, Bremer Vulkan und Rheinstahl Nordseewerke – könnten … überstehen“, schrieb die ZEIT im Jahre 1977; heute wäre ein „aber nicht dauerhaft“ hinzuzufügen (15).
Immerhin reagierte die damalige Bundesregierung unter Fregattenkanzler Helmut Schmidt (SPD) auf ungewohnte Weise: Neben allen Aufträgen der Bundesmarine kam „Schmidt-Schnauze“ den Schiffbauern auch durch Neuordnung der Reederhilfe entgegen: Er ließ den Neubau-Fonds kontinuierlich aufstocken und gewährte den Schiffseignern erst 12,5 und schließlich 17,5 Prozent des Baupreises aus Steuermitteln. Allerdings knüpfte er ähnlich seinem Vorvorgänger Konrad Adenauer an diese Subvention die Bedingung, die Neubauten mindestens befristet unter deutscher Flagge fahren zu lassen.
Klar, dass der VDR sich in bekannter Unmanier mokierte: 22 Prozent müssten es schon sein, damit Aufträge an deutsche Werften gehen könnten; und auch die angeordnete Bücherrevision vor Inanspruchnahme der Hilfen sowie die Pflicht, diese zu versteuern, passten dem Verband überhaupt nicht. Zudem ließ er sich mit teuer bezahlten Gutachten die Berechtigung weiterer „Heulbojen“-Rufe wissenschaftlich bescheinigen: „Sie, die mit ihren Aufträgen den deutschen Schiffbau wieder mitankurbeln sollen, wollen dasselbe, worauf auch die Werftherren ungeduldig warten: noch mehr Geld aus der Staatskasse“ (16). Trotzdem nahm man die Staatsknete, ließ hochsubventioniert im Ausland bauen und schuf so – mangels entsprechender Verschrottung – weitere Überkapazitäten, die wiederum die Frachtraten drückten. Zugleich „bedankten“ sich die Reedereien für die den subventionierten Neubauten auferlegte befristete Flaggenpflicht, indem sie ausflaggten, was erlaubt und möglich war, insbesondere ihre älteren Bestandsschiffe.
Nicht nur die Werften bekamen die Folgen zu spüren, sondern die gesamte maritime Branche: „Während etwa vor zehn Jahren die Existenz von rund 300.000 Menschen vom Wohlergehen von Schifffahrt, Schiffbau, Fischerei, Häfen und mit diesen verbundenen Sektoren (wie Zulieferindustrien, Banken, Speditionen, Bildungseinrichtungen) abhängig waren, sind es heute kaum noch 100.000 Menschen“, beschrieb die WATERKANT im Sommer 1987 die aktuelle Situation (17). Während 1970 noch rund 23.500 deutsche Seeleute auf Schiffen unter deutscher Flagge fuhren, waren es 1987 nur noch 11.500 – Tendenz: schnell sinkend.
Weltweit fuhren zu diesem Zeitpunkt etwa 30-40 Prozent der Gesamttonnage unter den Billigflaggen von Liberia, Panama, Zypern und anderen. Spitzenreiter waren die US-Reedereien mit 90 Prozent ausgeflaggter Schiffstonnage. Für die BRD wurden 60 Prozent angegeben. „Die Küste stirbt“, hieß es damals immer wieder und immer lauter: Es machte sich zwar die Einsicht breit, dass Steuererleichterungen und Zuschüsse für Betriebskosten, Lohnsteuer, Abwrackaktionen oder Neubauten weder eine deutsche Flotte unter deutscher Flagge erhalten noch Arbeitsplätze sichern oder gar schaffen könnten. Es gab auch erste Warnungen, dass diese Entwicklung Folgen weit über die Schifffahrt hinaus haben werde. Denn maritime und nautische Erfahrungen werden nicht nur in Häfen, Schifffahrtsämtern oder Lotsenbrüderschaften benötigt, sondern auch in der damals wie heute wachsenden Logistik.
Die Konsequenz, die die Politik aus all dem zog, war aber – wen wundert‘s – die grundlegend falsche: Man subventionierte nicht nur die Kostenersparnis auf Kosten der Beschäftigten, sondern man perfektionierte das System. Wenn Reedereien Schiffe ausflaggen, um so Personal- und Sozialkosten sowie Sicherheitsaufwendungen zu sparen, man aber diese Flaggenflucht stoppen will, ohne die Reeder zu verärgern – dann schafft man halt ein neues Register! Gerade eben – 1987 – hatte Norwegen mit seinem „Norwegian International Ship Register“ (NIS) eines der ersten neuzeitlichen „Zweitregister“ geschaffen, Dänemark folgte mit dem DIS, wobei es geringfügige Unterschiede gab, wer dort eingetragen werden durfte und welche Vorteile er jeweils erlangte. Also wurde in der BRD der Ruf laut nach einem deutschen Zweitregister – und nur dank erbitterten Widerstands (siehe unten) dauerte es zwei Jahre, bis daraus im April 1989 eine gesetzliche Regelung wurde. Allerdings wurde das deutsche „Internationale Schiffsregister“ (ISR) als Zusatzregister „aufgelegt“: Jedes Schiff, das die deutsche Flagge führen soll, muss im Hauptregister (DSR) eingetragen werden, die ISR Eintragung ist dann optional, um etwa arbeits- und steuerrechtliche Sonderregelungen in Anspruch nehmen zu können (17, 18).
Zum Verständnis: Die oben angegebene aktuelle Zahl von derzeit 354 Schiffen unter deutscher Flagge (9) bezieht sich auf das DSR – 195 davon sind zusätzlich im ISR erfasst. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), führend im globalen Kampf gegen Ausflaggung, zählt aber auch das deutsche ISR zu den Billigflaggen (19)! Umgerechnet bedeutet das: 2585 Einheiten unter Fremdflagge plus 195 ISR-Schiffe – deutsche Reedereien gewähren nur auf 5,4 Prozent ihrer Schiffe den Besatzungen alle Arbeits- und Sozialrechte nach deutschen Normen. Rechnet man dies auf Tonnage um, gelten sogar nur auf 0,48 Prozent der Schiffe deutscher Reedereien auch deutsche Beschäftigungsstandards. Wer das als beschämend bezeichnet, darf sicher mit viel Beifall rechnen – wenngleich nicht von den Reedern.
Zurück in die Vergangenheit: Die Schaffung des ISR war das Werk einer christlich-liberalen Mehrheit mit einer zaudernden SPD an ihrer Seite. Vorausgegangen waren massive – vergebliche – Proteste der Gewerkschaft ÖTV, von Seefahrtstudenten, die um ihre Ausbildung und Zukunft fürchteten, sowie diverser Umweltschutzverbände, die sich um sinkende Sicherheitsstandards sorgten. Auch sagten etliche kritische Experten dem ISR voraus, es werde weder die Ausflaggung stoppen noch zu maßgeblicher Rückflaggung beitragen, weil es in seinen Details nicht mit den echten Billigflaggen konkurrieren könne: „Das zweite Schiffsregister gibt … niemandem einen Anlass zur Freude“ (20). Es fokussiere fälschlich auf die Kosten des Schiffsbetriebs und hier vor allem auf die Personalkosten – unbeachtet hingegen blieben die Erlössituationen, die Produktivität der deutschen wie europäischen Schifffahrt oder deren zunehmend führende Rolle in der Containerschifffahrt.
Tatsächlich hat das ISR nach seiner Einführung – und, siehe oben, bis heute – keinen durchgreifenden Erfolg gehabt. Zwar habe es „zu Beginn … tatsächlich das eine oder andere Schiff gegeben, das ‚zurückgeholt‘ wurde – allerdings waren das Schiffe, die ohnehin nur zeitlich begrenzt unter fremder Flagge fuhren und deren Fristen gerade ausliefen, die zurückgeholt werden mussten, um die deutschen Subventionen nicht zu verlieren“, bilanzierte der damalige Schifffahrtssekretär der ÖTV, Jan Kahmann, im Jahre 1994: „Der Trend zur Billigflagge ist ungebrochen, das Zweitregister hat das nicht gestoppt, sondern ‚nur‘ dazu beigetragen, dass das soziale Klima in der deutschen Seeschifffahrt unter deutscher Flagge kälter geworden, ja, total zerstört worden ist“ (21). Eine sehr spät eingebrachte Verfassungsbeschwerde (22) der ÖTV und der damals noch konkurrierenden DAG gemeinsam mit den SPD regierten Ländern Bremen und Schleswig-Holstein (Normenkontrollverfahren) gegen das Zweitregistergesetz wurde übrigens im Januar 1995 zurückgewiesen: „Die Ungleichbehandlung ist jedoch durch sachliche Gründe gerechtfertigt“, entschieden die Karlsruher Verfassungsrichter (23).
Das Wort „Ungleichbehandlung“ meinte zwar die Seeleute, die so amtlich zu Opfern der deutschen Schifffahrtspolitik gestempelt wurden. Aber dazu gehören immer zwei Seiten: Die Reedereien nämlich durften und dürfen sich einer anhaltenden Ungleichbehandlung erfreuen – sie genießen mehr Vorteile als die meisten anderen Branchen. Die eingangs gelisteten Bestandszahlen zur deutschen Seeschifffahrt ebenso wie Kahmanns Worte machen es deutlich: Die Einführung des Zweitregisters war den Reedern längst nicht genug, sie gaben weiter ungeniert die „Heulboje“. Und das mit Erfolg: Zehn Jahre nach dem ISR-Gesetz verständigten sich Bundestag und Bundesrat auf eine „Neugestaltung der deutschen Schifffahrtspolitik“ und schenkten den Reedereien ein beeindruckendes Paket von Wohltaten – sie etablierten die so genannte „Tonnagesteuer“, schufen eine Vorteilsregelung für die Lohnsteuer und „flexibilisierten“ die Schiffsbesetzungsverordnung (SchBesV). Zwar mussten die Reeder dafür auf einige andere Subventionen verzichten, aber unterm Strich fuhren sie dabei ein dickes Plus in ihren Büchern ein. Die Bestandteile des Pakets verdienen eine Einzelbetrachtung:
- Während in der deutschen Seeschifffahrt vor der Flexibilisierung eine Mindestbesatzung anhand fester Kriterien vorgeschrieben war, schuf die neue SchBesV nun eine Einzelfallregelung, nach der die See-Berufsgenossenschaft auf Vorschlag der Reederei die Besatzungsstärke festzulegen hatte – natürlich mit dem Ziel, so die Personalkosten senken zu können. Außerdem wurden die Anforderungen an die Staatsangehörigkeit neu definiert (24): Während zuvor fünf bis sieben Seeleute an Bord Deutsche zu sein hatten, genügten künftig nur ein bis drei Seeleute deutscher oder einer (geringer bezahlten) EU Nationalität.
- Seeleuten auf Schiffen unter deutscher Flagge werden unabhängig von ihrer Nationalität von ihrer Heuer sowohl Sozialabgaben als auch Lohnsteuer in voller gesetzlicher Höhe abgezogen. Die Lohnsteuer allerdings fließt nur zu 60 Prozent in die Staatskasse, 40 Prozent darf der Reeder behalten – als „Ausgleich“, weil auf seinem Schiff unter Schwarzrotgold höhere Sozialabgaben fällig werden als auf Schiffen unter anderen Flaggen. Die Seeleute müssen mindestens 183 Tage ununterbrochen beschäftigt sein, damit der Reeder einbehalten darf (25). Der Bundesrechnungshof hat diese Regelung 2007 „für verfehlt und überdies für verfassungsrechtlich bedenklich“ erklärt, denn die mit ihr verfolgten Ziele würden nicht erreicht, „da das deutsche Schiffspersonal auf Schiffen unter deutscher Flagge nach dem Inkrafttreten der Regelung weiter abnahm“ (26). Das aber blieb nicht nur folgenlos, sondern wird gerade noch potenziert: Auf intensives Drängeln der Reeder hat gerade eine Gesetzesinitiative des Landes Hamburg zur Anhebung des Lohnsteuereinbehalts auf volle 100 Prozent den Bundesrat passiert und soll alsbald auch Bundestag beschlossen werden – nach wie vor ohne jede Bindung an einen Stellenerhalt! Zugleich wurde die Lohnsteuer der deutschen Seeleute sogar noch angehoben, da sie künftig den Posten „Verpflegungsgeld“ mitversteuern müssen und keine doppelte Haushaltsführung mehr anwenden dürfen: Noch mehr Geld statt für den Fiskus direkt in die Taschen der Arbeitgeber.
- Als Krönung der Subventions-Phantasie indes darf die „Tonnagesteuer“ gelten: Sie ersetzt die normale Gewinnversteuerung, der alle Unternehmen unterworfen sind, durch ein von der „Nettoraumzahl“ (NRZ) und den Betriebstagen abhängiges System kleiner Pauschalbeträge, aus deren Summe ein völlig fiktiver steuerpflichtiger „Gewinn“ ermittelt wird. Ausdrücklich ist das Führen der deutschen Flagge keine Voraussetzung für die Gewinnermittlung nach der Tonnagesteuer! Damit aber auch dieses System die notleidenden Reeder nicht überfordert, werden große Schiffe (mehr als NRZ 25.000) mit einem Pauschbetrag von 0,23 Euro pro 100 Nettotonnen und Tag als steuerpflichtigem „Gewinn“ deutlich günstiger eingestuft als kleine Schiffe (bis zu NRZ 1000), die mit 0,92 Euro viermal so viel „Gewinn“ versteuern müssen. Eine Zahl aus jüngster Vergangenheit verdeutlicht die Dimensionen dieses Förderinstruments: Nach Berechnungen der Grünen-Bundestagsabgeordneten Valerie Wilms belief sich die Schifffahrtsförderung per Tonnagesteuer im Zeitraum 2004 2011 auf rund fünf Milliarden Euro (27).
Die Tonnagesteuer bevorzugt übrigens nicht nur Reedereien, sondern hat auch den Markt der Schiffsfinanzierung angeheizt: Fonds und Banken (siehe oben) warben bei großen wie kleinen Anlegern und verkauften ihnen Anteile an Schiffsfinanzierungs-Gesellschaften. Längst sind solche Konglomerate Eigentümer vieler, wenn nicht der meisten Schiffe („Zahnwaltschiffe“, weil Einkommensgruppen wie Zahnärzte oder Rechtsanwälte hier maßgeblich ihre Steuer-„Last“ reduzieren), die dann von traditionellen Reedereien nur noch gemanagt werden. Anfangs war es diesen Investoren gestattet, bei Einstieg in einen Schiffsfonds zunächst ihre Anfangsverluste steuermindernd geltend zu machen und später zur Tonnagesteuer zu wechseln. Börsianer lobten unverhohlen: „Bei dieser Wertermittlung werden die anfallenden Erträge nahezu steuerfrei gestellt“ (28). Allerdings ist dieses Übergangsmodell 2007 ausgelaufen, seither muss jeder Anleger zwischen Verlustabschreibung und Tonnagesteuer wählen. Unstrittig ist aber, dass dieses System mit massiven Überkapazitäten, nachfolgendem Ratenverfall, mit Falschberatungen, getäuschten Hoffnungen und nicht zuletzt der Krise von 2008 zur völligen Überheizung geführt hat. Vor allem kleinere Anleger zahlten drauf und gingen kaputt. Etliche Banken stiegen aus der Schiffsfinanzierung völlig aus, was der Branche heute ernsthafte Probleme bereitet; letztlich wurden Gelder „verbrannt“ (auf Kosten der Steuerzahler) und der Konzentrationsprozess befördert.
Nochmals: Diese Neuorganisation einer massiven Branchensubventionierung war (und ist) kein deutscher Alleingang! Vielmehr handelte es sich um Maßnahmen auf Grund von Empfehlungen der EU, die allerdings in einzelnen Mitgliedsstaaten in unterschiedlicher Weise umgesetzt wurden (und werden). Nachweislich wollte die Bundespolitik damit den Reedern eine „Alternative zur normalen Unternehmensbesteuerung“ bieten, denn „das spare Millionen, solle die deutsche Flagge verstärkt schmackhaft machen und so den Trend zur Ausflaggung stoppen“ (24).
Von diesen hehren Vorsätzen ist zwar nur der erste Teil umgesetzt worden, denn die Ausflaggung ging weiter. Weil sie aber zugleich von weiteren „Heulbojen“-Arien der Schifffahrtsbranche begleitet war, etablierte der frisch gekürte Bundeskanzler Gerhard Schröder das Instrument der „Nationalen Maritimen Konferenzen“ (NMK) – eine regelmäßige Versammlung von Reedern, Schiffbauern, Gewerkschaften und anderen der maritimen Wirtschaft nahen Branchen und Einrichtungen unter Leitung eines „Maritimen Koordinators“. Die erste NMK fand im Juni 2000 in Emden statt, die 9. NMK hat Mitte Oktober dieses Jahres in Bremerhaven getagt (29).
Zu den ebenso herausragenden wie umstrittenen Errungenschaften der NMK zählt das 2003 zur 3. NMK in Lübeck geschaffene „Bündnis für Ausbildung und Beschäftigung in der Seeschifffahrt“, bekannt geworden als „Maritimes Bündnis“. Es basiert auf einer gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Wirtschafts-, Verkehrs- und Kultusminister der norddeutschen Küstenländer, der Gewerkschaft ver.di und des VDR. Darin versprechen die Reeder zwar, verstärkt ausgeflaggte Schiffe zurück- beziehungsweise neue unter Schwarzrotgold einzuflaggen: „Bis zum Jahresende 2010 sollten 600 Handelsschiffe unter deutscher Flagge fahren“, schrieb jedoch die See-Berufsgenossenschaft Anfang 2011 vor der 7. NMK und bilanzierte (30) nüchtern: „Derzeit sind es allerdings nur rund 450“ – und viereinhalb Jahre später, siehe oben, mit 354 nochmals deutlich weniger.
Im Gegenzug gewährt der Bund den Reedereien neben der Tonnagesteuer und dem (noch) partiellen Lohnsteuereinbehalt zusätzliche Förderelemente. Vor jeder NMK entwickelt sich mittlerweile ein regelrechter Verlautbarungszirkus: Die Gewerkschaft ver.di mahnt die Reeder lauthals, ihren Teil des Bündnisses – die Rückflaggung – zu erfüllen; die Politik versteigt sich in wechselnden Tonlagen (und -schärfen) zu Drohungen, bei anhaltender Nichterfüllung die Tonnagesteuer und andere Wohltaten einzuschränken oder einzustellen; aber nach jeder NMK bleibt nicht nur alle Förderung erhalten, sondern wird ausgebaut, denn es gilt ja, die maritime Wirtschaft im Lande zu erhalten. Zwar kursierte vor der 9. NMK das Gerücht, dass ver.di aus dem Maritimen Bündnis aussteigen wolle, wenn es nicht endlich gelinge, Subventionen an Rückflaggung zu binden – aber zwei Wochen vor der Tagung scheint es, als würde es ein Gerücht bleiben.
Zu den weiteren Förderungen im Rahmen des Bündnisses zählten beispielsweise eine Regelung über Lohnkostenzuschüsse sowie Ausbildungsbeihilfen (25):
- Für Seeleute mit Pässen der BRD, eines EU-Staates, Liechtensteins, Islands oder Norwegens zahlt der Bund den Reedern Zuschüsse zur Senkung der Lohnnebenkosten, sofern der betreffende Seemann auf einem Schiff unter deutscher Flagge im internationalen Seeverkehr beschäftigt ist. Weitere Voraussetzung ist, dass der bezuschusste Reeder in Deutschland Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge in jeweils vorgeschriebener Höhe einzieht und abführt. Je nach Funktion an Bord gibt es unterschiedlich hohe Zuschüsse, bei Führungskräften wird auch noch nach Schiffsgröße gestaffelt. Aktuell erhält ein Reeder etwa für einen Kapitän auf einem großen Schiff mit mehr als 3000 BRZ einen jährlichen Lohnnebenkosten-Zuschuss in Höhe von 16.700 Euro; für einen einfachen Seemann unabhängig von der Schiffsgröße 9400 Euro.
- Reeder, die auf einem Schiff unter deutscher Flagge im internationalen Seeverkehr Nachwuchs ausbilden, erhalten vom Bund pro Ausbildungsplatz (unabhängig von der Ausbildungsdauer) einen einmaligen Zuschuss zwischen 12.750 Euro (für nautische Offiziersassistenten) und 25.500 Euro (für Schiffsmechaniker).
- Geradezu skurril indes ist ein weiteres Element der Ausbildungsförderung: Seit 2012 schießt der VDR seinen Mitgliedern jeweils weitere 10.000 Euro pro Ausbildungsplatz zu. Der Verband hat für diesen Zweck – gemeinsam mit ver.di „als Sozialpartner und Mitstifter“ – eigens „die Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland gegründet, um die Ausbildung, Qualifizierung und Fortbildung von Besatzungsmitgliedern, die auf in deutschen Seeschiffsregistern eingetragenen Schiffen beschäftigt sind, dauerhaft zu sichern“ (31). Diese Stiftung finanziert sich zum einen aus sehr speziellen VDR-Mitteln, nämlich jenen Geldern, die „jede deutsche Reederei, die ein Schiff zeitweise unter einer anderen Flagge fahren lässt und nicht darauf ausbildet“, als „Ablösebetrag“ zu entrichten hat; 2013 waren das beispielsweise rund 20 Millionen Euro. Hinzu kamen zum anderen weitere zehn Millionen „aus erhöhten Ausflaggungsgebühren, die für die Schifffahrtsförderung des Bundes verwendet werden sollen“ (31). – Letztlich handelt es sich also auch hier nicht um Geschenke der Reeder, sondern um Gelder, die der Bund gibt beziehungsweise auf die er verzichtet. Und letztlich können Reeder so auch die letzten Schiffsmechaniker als Facharbeiter an Bord völlig legal und voll bezahlt von der Konkurrenz durch Azubis ersetzen.
Aber es ist noch nicht genug: Seit Anfang 2015 hat der VDR mit Alfred Hartmann aus dem ostfriesischen Leer einen neuen Vorsitzenden. „Die deutsche Flagge ist eine sehr gute Flagge, die im Ausland eine außerordentlich hohe Reputation genießt“, sagte Hartmann bei Amtsantritt (32). Wer das allerdings als Rückflaggungs-Appell an seine Kollegen interpretiert, liegt schief: Denn nach eigenen Angaben verfügt die Reederei über eine Flotte von 66 Schiffen – 35 Gastanker, 22 Containerschiffe, neun Mehrzweck- und Bulkfrachter –, von denen ganze zwei Gastanker unter deutscher Flagge fahren, während 56 andere Schiffe, darunter alle Containercarrier, die nach Angaben der ITF besonders berüchtigte Billigflagge Liberias führen (33). Hartmann hat denn auch die ultimative Idee, was zu tun ist, um die deutsche Flagge „im europäischen Vergleich konkurrenzfähig zu machen“: Die Bundesregierung müsse den von der EU gesetzten Rahmen ausnutzen und die Branche unter anderem von nationalen Vorschriften entlasten – etwa durch die folgsam in Umsetzung befindliche Neuregelung zum Lohnsteuereinbehalt. Hartmann bekennt trotzdem völlig offen, dass niemand auch nur im Entferntesten an Rückflaggung denkt: „Deutsche Schiffe müssen auch in Ostasien konkurrenzfähig sein – drei Viertel der weltweiten Handelsflotte sind nicht im Land ihrer Eigner geflaggt. Die fremde Flagge ist ein völlig normaler Zustand“ (32).
Ein gewerkschaftlich aktiver Seemann kommentierte das jüngst im Gespräch mit dem Autor mit den Worten: „Im Prinzip stellt der VDR mit seiner Dreistigkeit sogar gestandene Energieversorger in den Schatten.“ Man darf gespannt sein, was den Reedern (und anderen) zur diesjährigen NMK noch alles an Forderungen einfällt – eine weitere Aufweichung der SchBesV gehört gewiss dazu. Sicher ist auch, dass der VDR die Ausflaggung beharrlich als Totschlagargument für jede Tarifrunde missbraucht: Nullrunden, nicht zur Verhandlung erscheinen, andere Termine platzen lassen – im Prinzip ist die immer weiter schrumpfende Zahl deutscher Seeleute seit 1989 von der bundesweiten Tarifentwicklung abgekoppelt. Zu dieser Tendenz passen insbesondere zu den Tarifrunden regelmäßig auftauchende Berichte über die Entwicklung komplett satellitengesteuerter, unbemannter Handelsschiffe – die Technische Universität Hamburg-Harburg kassiert dafür aktuell gerade knapp drei Millionen Euro EU-Förderung. „Die Ergebnisse“, so heißt es geradezu zynisch, würden „als Beitrag zur Nachhaltigkeit der europäischen Schifffahrt unter wirtschaftlichen, operativen, ökologischen, sozialen und Sicherheitsaspekten gesehen“ (34). Pervers, oder?
Es würde den Rahmen eines Beitrags über die Entwicklung der Schifffahrts-Subventionitis sprengen, hier noch weitere Details zur Ausbildungs- und Beschäftigungssituation deutscher wie auch auf deutschen Schiffen beschäftigter ausländischer Seeleute darzustellen. Es soll aber nachdrücklich betont werden, dass der Verzicht darauf nicht missverstanden werden darf als Schönfärberei: „Seemann, Deine Heimat ist das Meer“ – das mag für betuchte Hobbyskipper und Yacht-Milliardäre gelten, die sich dauerhaft entsprechenden Luxus leisten können. Die tägliche Erfahrung der Seeleute ist jedoch geprägt ist von Stress, Hetze, miesen Arbeitsbedingungen, schlechter Bezahlung, von Dreck, Lebensgefahr und miserablen Zukunftsaussichten. Jeder weitere Euro der öffentlichen Hand zum Vorteil einiger weniger „Heulbojen“ wird da zum Stein, der, um den Hals gehängt, das eigene Absaufen begünstigt.
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Dieser Text entstand Anfang Oktober 2015, bitte bei verwendeten Daten berücksichtigen.
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Anmerkungen:
* Der Autor ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift WATERKANT.
1. Der erste Teil dieser Serie zu Schiffbau und Werften erschien in Ausgabe 2 / 2015 dieser Zeitschrift (Seite 13‑17). Weitere Folgen sind geplant, Näheres siehe dort.
2. Der Begriff „Reeder“ wird hier meist umgangssprachlich benutzt: Reeder als Individuen, die Schiffe besitzen und betreiben, gibt es nur noch als seltene Ausnahmen. Schiffe werden betrieben von Reederei-Konzernen (meist als AG), die von Managern geführt werden. Und: Reedereien sind immer seltener auch Eigentümer – häufig chartern sie Schiffe von Fonds, Banken oder Anlegergesellschaften („Zahnwalt-Schiffe“), denen sie gehören. Oft sind es auch Fachabteilungen großer Konzerne, die als „Reeder“ fungieren (etwa für Tanker von Ölmultis).
3. Es geht in dieser Serie um Subventionen und Begünstigungen wirtschaftlichen Handelns, die durch effektive politische Vernetzung jeweils legal abgesichert wurden – nicht um Korruption im strafrechtlichen Sinne: Die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen Aspekt zu bewerten, sei der kritischen Phantasie der Leser überlassen…
4. „Handelsflotte“ meint alle gewerblich genutzten Schiffe ohne Fischereifahrzeuge; das Thema Fischerei wird ggf. gesondert dargestellt.
5. BIG Business Crime, 23. Jg., 2015, Heft 2, Seite 8
6. Die Zahlen stammen aus Statistiken des Verbands Deutscher Reeder (VDR), können hier aber nicht sinnvoll verlinkt werden, weil der Verband auf seiner Webseite Zahlen unterschiedlicher Quellen und Bezugsgrößen nebeneinander präsentiert, was für Laien verwirrend ist.
7. Mit der dimensionslosen „Bruttoraumzahl“ (BRZ) wird die Größe eines Schiffes beziffert. Die BRZ ist, vereinfacht ausgedrückt, ein rechnerischer Wert aus dem in Kubikmeter gemessenen Inhalt aller geschlossenen Räume, multipliziert mit einem ebenfalls größenabhängigen logarithmischen Wert zwischen 0,22 und 0,32. – Die Nettoraumzahl (NRZ) wird auf ähnliche Weise errechnet, bezieht aber nur das Volumen der Laderäume, den Tiefgang und die Bordhöhe ein.
8. lt. UNCTAD: http://kurzlink.de/um05PcSTk
9. http://www.bsh.de/de/Schifffahrt/Berufsschifffahrt/Deutsche_Handelsflotte/index.jsp
10. DER SPIEGEL, Heft 51/1961, Seite 40 ff. – hier und nachfolgend ist bei Zitaten die Rechtschreibung an heutige Gepflogenheiten angepasst worden!
11. soweit nicht anders vermerkt, beschränkt sich die folgende Betrachtung bis 1990 auf die BRD-Verhältnisse.
12. DER SPIEGEL, Heft 30/1956, Seite 29 f.
13. http://kurzlink.de/mm_120711
14. DER SPIEGEL, Heft 47/1975, Seite 60 f.
15. DIE ZEIT, Nr. 19 vom 6. Mai 1977, Seite 25.
16. DIE ZEIT, Nr. 35 vom 25. August 1978, Seite 15 f.
17. WATERKANT, Jg. 2, Heft 4 (Juli/August 1987), Seite 11 ff.
18. Wahlen, Olaf: Diplomarbeit „Schiffsregister“; http://kurzlink.de/Jx3atDiEA
19. ITF-Billigflaggen-Kampagne: http://kurzlink.de/e2xX9IpC5
20. WATERKANT, Jg. 4, Heft 1-2 (April 1989), Seite 23 f.
21. „Bremer Nachrichten“ vom 25. Oktober 1994
22. „Bremer Nachrichten“ vom 12. Juli 1987
23. http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv092026.html
24. „Bremer Nachrichten“ vom 30. März 1998
25. WATERKANT, Jg. 28, Heft 2 (Juni 2013), Seite 27
26. http://kurzlink.de/F6agoZazf – Bundesrechnungshof, Jahresbericht 2007, Ziffer 48, Seite 212 f.
27. http://kurzlink.de/DHCNNvLoK – Valerie Wilms (MdB): Rede vor der Handelskammer Hamburg
28. „manager magazin“ vom 14. Juni 2004; http://kurzlink.de/jyQVja328
29. http://kurzlink.de/xYvANcKwu – NMK-Webseite mit vollständiger Kongress-Dokumentation
30. http://kurzlink.de/fzWIBOJOm – BG Transport und Verkehr, „Sicherheits-Profi“, Heft 1/2011, Seite 29.
31. Marinekommando, Fakten und Zahlen zur maritimen Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland – Jahresbericht 2014, Seite 15.
32. „Deutsche Seeschifffahrt“, Heft 1-2/2015, Seite 18 ff.
33. https://waterkant.info/?p=3593
34. „Nordsee-Zeitung“ vom 11. Juli 2015, Seite 36